Pragmatische Toleranz

(1) Noch eine Überlegung zu Toleranz. Betrachten wir den christlichen Spruch, dass (sinngemäß) wir nicht richten sollen, auf dass wir nicht gerichtet werden. Folgende mögliche Interpretation bietet sich an, die interessant genug ist:
Vorgeschrieben wird hier eine pragmatische Toleranz, die dennoch (aufgrund der menschlichen Situation) für alle Zeit gültig ist. Am Ende der Welt wird es ein klares Schiedsgericht geben, bevor dieses aber erreicht wird, gilt Toleranz allen alternativen Lebensformen, d.h. der Staat mischt sich nicht in die Moral ein. Das Argument, dass pragmatische Toleranz empirisch instabil und gar keine echte "Toleranz" sei, und ohnehin keine angemessenen Gesellschaftsgrundlagen schaffe, ist damit (teilweise) aufgehoben. Da die Apokalypse inhaltlich als das Weltende definiert ist, gilt, solange es die Welt gibt, das Toleranzgebot. Wäre ein unproblematischer Zugang zu moralischen Werten möglich, d.h. wären diese anhand eines eindeutigen Maßstabes zweifelsfrei feststellbar und der Richtende von Sünde frei, gälte das Toleranzgebot nicht mehr - dies ist aber von vorneherein epistemologisch ausgeschlossen. (Das ist weniger christliche Theologie als Meditation über irgendeine mögliche Theologie.)


(2) Der Ruf nach "Respekt" oder "Anerkennung" ist letztlich auch die Aufforderung, den liberalen Begriff des "Schadens" im no-harm-principle auszuweiten, sodass er auch psychische Zustände umfasst. Im klassischen Libertarismus kann A B's Lebensstil, Handlungen und Moralvorstellungen für das schlechthin Böse halten, und sich weigern, mit B jede Form von Kooperation einzugehen. Noch weiter gesprochen, A kann sich jeder gesellschaflichen Interaktion mit B entziehen. Auch wenn die Grenzen hier unscharf sein mögen, sind es letztlich nur schadende Handlungen, von denen er ablassen muss (Hetzkampagnen etc. mögen auch dazu zählen). Es ist einfach, hier ein Mehrheits-Minderheitsbeispiel sich zu denken. 95% einer Gesellschaft seien evangelikale Christen, die eine Minderheit kosmopolitaner Homosexueller verachten. (Das Beispiel kann mit beliebigen Gruppen und Konstellationen durchgeführt werden - bitte, es hat nichts mit Homosexualität oder Evangelikalen zu tun.) Sie leben in einem gemeinsamen demokratischen, liberalen Staat, mit "offices open to all", gleichen Rechten, Freiheiten, Pflichten etc. Wir können hier verschiedene Eskalationsstufen der Verachtung denken. Als Extrem drücken die A's im Alltag aus, dass sie die B-Minderheit für Nicht-Menschen halten. (Um noch weiter zu gehen, kann angenommen werden, dass private Geschäfte, die nicht-lebensnotwendige Produkte verkaufen, B's den Zutritt verwehren. In einer klassisch libertären Gesellschaft ohne eine Konzeption von Öffentlichkeit, auf die jeder Zurecht hat, könnte das durchaus das Recht dieser Geschäfte sein.) All das, ohne dass es zu einem Ansatz von Gewalt gegenüber B's kommt. Gewährt wird hier Toleranz; auch der Staat ist neutral seinen Bürgern gegenüber. Was einem Teil der Bürger hier verweigert wird, ist Respekt oder Anerkennung.


(3) Um den Gedanken von vorhin aufzunehmen, die B's in der beschriebenen Gesellschaft sind sich sicher, dass es sich nicht um eine "Not-Toleranz" ihnen gegenüber handelt - die A's halten Toleranz wirklich als zentralen Wert ihrer Religion hoch. Es geht hier um einen Bereich, wo Emanzipation nicht mehr Emanzipation um Rechte ist, sondern eben um Anerkennung. Es stellen sich zwei Fragen an: Muss der liberale Staat die prekäre Situation der B's berücksichtigen? Und: Ist die Verweigerung der Anerkennung durch die A's moralisch gerechtfertigt? Hat womöglich sogar der Staat langfristig für "moral pressure" zu sorgen, um für die Anerkennung der B's zu sorgen? Außerdem: Wenn die A's eine universalisierbare Position vertreten wollen, müssen sie umgekehrt wollen können, dass unter der Situation, dass sie eine Minderheit sind, die sich einer Mehrheit Anerkennungs-verweigernder B's befindet, es keine moralische Pflicht der Mehrheit gäbe, sie anzuerkennen.

Life should have a soundtrack

Heute in einem hohen einstelligen Bereich gehört:



Wiedergefunden

"Expressed in broad terms, the content of a liberal democratic conception of justice has three main elements: a list of equal basic rights and liberties, a priority for these freedoms, and an assurance that all members have adequate all-purpose means to make use of these rights and liberties." (John Rawls, Lectures on the History of Political Philosophy, p. 12)

- Sicherlich sehr Rawls-freundlich, aber eine gute Aufbaudefinition. (Nota bene: Rawls spricht nur eine Seite weiter von den "libertarians". Er will an dieser Stelle noch nicht gegen sie argumentieren, sondern nur gegen sie definieren. Ob dieser Unterschied wichtig ist: eine andere Frage)

Nachgedanke

Man könnte auch, um die krude Metapher fortzusetzen, folgendes sagen: Der Liberalismus kennt keine Transzendenz. Rousseau setzte über die Masse der Individuen, der "Vielen", den quasi-emergenten Allgemeinwillen, dessen Legitimität aus mehr zu erwachsen scheint als dem Wesen der partikularen Einzelnen. Der Liberalismus verneint all solche Sachen. Er verneint, dass es jenseits der real existierenden Individuen einen legitimierenden Korpus von Prinzipien oder (Volks-, Geschichts-, Gesellschafts-, Universal-, Gottes-) Subjekten gibt, welche diese transzendierten oder zu diesen metaphysisch primär wären.

Experimentelles Fragment

(Sehr experimentell, mit Vorsicht zu genießen, argumentativ unvollständig und schwammig)

Frage: Das Töten des demokratischen Staates oder Akteurs ist vollkommen gleich dem Töten eines diktatorischen, moralisch falschen oder verwerflichen Staates. Jede Begründung, die wir auch im Nachhinein geben mögen, kann diese Tatsache nicht abmildern. Der Liberalismus ist kein leeres, wehrloses Versprechen; er ist, auf die Spitze getrieben, eine kämpferische Doktrin mit echten Feinden. Dies heißt noch nicht viel für den liberalen Alltag. (Schmitt würde hier anderes denken.) Doch es sagt etwas über die Sprache, derer wir uns bedienen; die Sprache der Rechte, derer wir uns bedienen, gleicht der Sprache aller Gläubigen; wie jeder Glauben redet sie über nicht Existierendes, das erst ist einem festen Vertrauen wahr wird. Wir finden Rechte nirgendwo; der Glaube, dass sie kulturunabhängige Universalien seien, ist deskriptiv gesprochen nicht einmal eine gute Hypothese.
Die fehlende Letztbegründung sowohl Gottes als auch der Rechte, die wir meinen, ist eigentlich eine Drohung; sie ist die Androhung an all jene, welche den leap of faith nicht getätigt haben, "den Sprung des Glaubens", vernichtet zu werden, sollten sie sich wehren oder angreifen. Der Liberalismus kennt den Abwehrkrieg genauso wie jede andere große Weltreligion - oder sollte ihn kennen. (Die Frage nach der aktiven Verbreitung, der Mission ist eine andere.)
Wir kennen im Liberalismus wie in jeder guten Religion zwei große Konfessionen, die amerikanische und die kontinental-europäische. Die Existenz dieser verschiedenen Formen verweist uns darauf, dass die konkrete Existenz dieser Weltanschauung durch die Konkretheit der Lebensumstände geprägt ist; dass es sich bei ihnen um kein konkretes Set abstrakter Prinzipien handelt. Die Universalität der Rechte verbindet sich mit den Merkwürdigkeiten der eigenen Kultur so unmittelbar, dass man sie kulturübergreifend nur unter abstraktester Allgemeinheit verstehen kann: Ähnlich dem Gott, der in der Ökumene oder gar dem interreligiösen Dialog beschworen wird. (Letzteres wäre, rückübertragen, wohl die UN.)

Antwort: Es handelt sich hier um eine rein formale Frage; natürlich mag sich auch das liberale Denken möglicherweise auf seinen Letztanspruch zurückführen, wo es sagen werden muss: "So ist, und nicht so". Doch das Spezifische des Liberalismus ist der lange Weg dorthin, wo er sagt: "Wir wissen es nicht genau, wir tolerieren anderes". Toleranz ist hier - im Gegensatz zu den großen monotheistischen Religionen - nicht historisch erlernter Pragmatismus, sondern verankertes Prinzip. Und natürlich ist die ganze Religionsmetapher falsch. ...

Still alive

Nach langer Zeit wieder internet-aktiv. Sind die Bissigen Liberalen "neoliberaler" geworden? Habe sie immer als Bastion eines "kulturellen" (Schwurbelwort bitte hier einsetzen) Liberalismus verstanden, ganz auf der Linie dieses FAZ-Textes. Zur Diskussion hier.

W-Welle 59

Gute Eröffnungsrede auf dem 59. Parteitag. Vielfältig, und die Wirtschaftsrhetorik bleibt prozentual nicht ganz so bestimmend. Sind aber auch Zeiten, in denen FDP-Themen hochaktuell sind, insofern hielt sich die Schwierigkeit des agenda setting in Grenzen.
Witzig nur, mit welcher Grundsätzlichkeit hier bekräftigt wird, die FDP sei auf keine Koalition festgelegt.